Geheimnis
Die Forderung nach Offenheit ist allumfassend: Ob an der Supermarktkasse, im Fitnessstudio oder bei der der Recherche im Internet – überall geben wir bereitwillig persönliche Daten von uns preis. Es herrscht grundsätzlich ein blindes Vertrauen in die „Information“ und, mit ihr, in eine allumfassende Transparenz. Fragen des Schutzes von persönlichen Daten, treiben Datenschützer um – und uns auch, jedoch nur bis zum nächsten Klick im Netz.
Vielleicht gilt es manchmal – und das nicht nur in der Welt des Digitalen –, das Geheimnis zu verteidigen: Wo sind die Grenzen der Preisgabe von Informationen erreicht, welche (persönlichen) Daten sollen genutzt werden und einsehbar sein und wer entscheidet darüber? Möchten wir wirklich zum gläsernen Menschen werden, möchten wir alles voneinander wissen?
Und lässt sich tatsächlich „alles“ wissen, gibt es nicht einen unerreichbaren Grund der Persönlichkeit? Das Geheimnis ist etwas, das eng mit unserer persönlichen Geschichte und Identität verwoben ist: Was spreche ich aus, was verschweige ich? Bin ich das, was ich von mir weiß und erzähle?
Auf dem schmalen Grat, der Erotik und Pornographie voneinander trennt, trifft man das Geheimnis ebenso an wie auf der Couch der Psychoanalytiker. Die schüchterne Schwester des Geheimnisses ist die Scham, ihre vorlaute Schwester die Neugier: Während die Scham das intime Geheimnis einer Person schützen soll, begibt sich die Neugier auf den Weg, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen: vielleicht auf den Grund einer Neurose, des Verlaufs einer ganzen Familiengeschichte – und vielleicht sogar der Verhaltensmuster einer ganzen Gemeinschaft. Das Geheimnis ist ambivalent: Es schützt und verdeckt.
Sein ungleicher Zwilling ist das Rätsel, sein strahlender Gegenbegriff die Aufklärung. Vieles in der Welt ist rätselhaft – aber Rätsel lassen sich prinzipiell lösen; die Wissenschaft versucht sich in Lösungsstrategien und hat auf diese Weise viele Geheimnisse aufgelöst. Im Impetus der Aufklärung kann das Geheimnis daher nicht mehr als rhetorische Strategie genutzt werden, um Menschen „ausgeliefert“ und handlungsunfähig zu belassen. Dennoch stellt sich auch die Frage nach den Grenzen des zu Wissenden – was liegt dahinter, im Dunkeln des („Noch“?)-Geheimen: Ausgeliefertsein oder Vertrauen in eine nicht zugängliche Macht?
Das Geheimnis trennt den Glauben vom Wissen. Es lenkt in den Obskurantismus ebenso, wie es die Aura des Heiligen bedingt. Somit ist es auch oft Mittel der Macht: Verschwörungstheorien inszenieren vermeintliche Geheimnisse, geheimes Wissen kann über politische Strategien entscheiden und letztlich ist das oben angesprochene Wissen aus den Datenschätzen der Menschen heute schon Mittel zur Disziplinierung und politischen Steuerung.
Nicht zuletzt liegt im ambivalenten Begriff des Geheimnisses der Antrieb zahlreicher Geschichten, denen man im Theater nachspüren kann…